Farben-Liebe

Jenseits der Grenze der Farbfläche

In der Kunst des 20. Jahrhunderts sind viele Grenzen in der Kunst gefallen. In der Performance mischt sich die bildende Kunst mit der darstellenden Kunst des Theaters, im Ready Made werden Gebrauchsgegenstände zur Kunst erklärt, um nur zwei Beispiele zu nennen. Bei Lucio Fontana und Gotthard Graubner ist die Kunst nicht mehr dort zu Ende, wo die Leinwand aufhört.

Lucio Fontana, Schnitte in der Leinwand, weiß, monochrome Malerei, Farben-Liebe
Lucio Fontana, Serie I Tagli, 1958-68

Normalerweise würde man ja denken, ein Schnitt in der Leinwand ist ein Schaden an der Substanz. Nicht so bei Lucio Fontana (1899-1968). Mit dem entsprechenden gedanklichen Überbau werden die Löcher und Schnitte in der Leinwand zu einer Überwindung der Kunstgattungen Malerei und Skulptur.
Die Fläche, die beiden Dimensionen von Höhe und Breite, werden durch die Eingriffe ins Material in die dritte, räumliche Dimension geöffnet. Wenn man so will, stellen diese sichtbaren Spuren vergangener Handlungen sogar einen Hinweis auf die Zeit als vierte Dimension dar. Dazu passt, dass Fontana als Bildhauer begonnen hat. Hier hat der Künstler wortwörtlich auf das Bild eingehauen.

Schwarzes, monochromes Bild, Löcher in der Leinwand, Farben-Liebe
Lucio Fontana, Serie I Buchi, 1949-68


Das Anliegen des Italo-Argentiniers war es, die Kunst, gerade auch die Malerei, für Neues zu öffnen. Wie politisch das Selbstverständnis der Künstler am Anfang des 20. Jahrhundert war, zeigen die herausgegeben und von mehreren Überzeugten unterzeichneten Manifeste. 1946 erschien das Manifesto Blanco, das weiße Manifest in Buenos Aires. Ein Jahr später folgte in Mailand das Manifesto Spaziale, das räumliche Manifest. Die Kunst sollte international sein und nicht nur von nationalen Grenzen und Vorgaben befreit. Die moderne Welt sollte in die künstlerische Arbeit integriert werden. So stammen auch einige der ersten Environments und Licht-Installationen von Lucio Fontana.

Grenzen von Farben und Fläche, Malen lernen, Farben-Liebe
Gotthard Graubner, Kissenbild, 1970

Beim deutschen Künstler Gotthard Graubner (1930-2013) ist das fast schon entgegengesetzt. Seine bekanntesten Werke, zwei davon hängen im Amtssitz des Bundespräsidenten, nannte er Farbraumkörper. In gewisser Weise scheinen sie etwas Lebendiges zu haben. Sie müssen atmen. Als man im Museum Nürnberg versuchte, die empfindliche Substanz der Werke durch eine dichte Hülle aus Plexiglas zu schützen, bekam das den Werken gar nicht, ganz so als müssten sie ohne Luft ersticken.

Kissenbilder, Farbwolken, Graubner, Farben-Liebe
Gotthard Graubner, Ohne Titel, 1989, Sammlung Defet, Nürnberg

Die Farbraumkörper begnügen sich nicht mit der Fläche der einfachen Leinwand. Graubner polstert die Bilder dick mit Watte auf. Auf diesen Untergrund bringt er Farbe auf, richtig viel Farbe. Da die Leinwände nicht durch intensive Grundierungen abgedichtet wurden, fließt viel Farbmaterial in das Innere der Bilder. Vermeintlich ist diese versickerte Farbe dem Blick des Kunstbetrachters entzogen. Doch betrachtet, oder besser gesagt, begegnet man seinen Bildern direkt, wird man feststellen, dass einem eine enorme Farbenvielfalt entgegenströmt. Nicht unbedingt sofort optisch eindeutig wahrnehmbar, aber dennoch spürbar.
Wie stark die Farbe ausstrahlt, kann man aus etwas Entfernung besser erkennen. Das einfallende Licht wird vom Bild als ein Farbnebel in seine Umgebung abgegeben. Das ist sicherlich bei vielen intensiv farbigen Bildern so. Doch hier sind es unglaublich viele, zart ineinander verwobene Farbstrahlen, die zu einer besonderen Intensität und Stimmung führen.
In diesen Werken ist es Gotthard Graubner gelungen, die Farben sozusagen von der Materie zu befreien, denn sie wirken über die physische Begrenzung des eigentlichen Kunstgegenstandes hinaus auf ihre nähere Umgebung. Man möchte fast sagen, der Farbe, den Farben der Malerei sind kaum Grenzen gesetzt.

Kissenbilder, Graubner, Farbe im Raum, Farben-Liebe
Gotthard Graubner, Ohne Titel, links 1970 und 1982, Sammlung Defet, Nürnberg

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