Farben-Liebe

Wege in die Abstraktion

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts kam in der Malerei die Möglichkeit auf, ganz ohne darstellendes Motiv arbeiten zu können. An Stelle einer auf präzisen Formen basierenden exakten Abbildung, war es nun möglich, malerisch freier zu arbeiten. Dadurch traten die Farbe und ihre Wirkung in den Vordergrund. Die Künstler, und mit ihnen auch die Farben, emanzipierten sich von der Abbildung und den Formen.

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Paul Cézanne, Stillleben, 1877,
Solomon Guggenheim Museum, New York

Ein Vorreiter für diese Bestrebungen in der modernen Kunst war Paul Cézanne (1839-1906). Von ihm sind schier endlose Serien der Landschaft rund um den Mont Saint Victoire und zahlreiche Stillleben erhalten. An ihnen kann man deutlich nachvollziehen, dass sich der Künstler von der exakten räumlichen Perspektive entfernt. Das geschieht nicht aus Unfähigkeit, sondern weil er den Fokus auf die Farben lenken will. Hinzu kommt, dass das Dargestellte möglichst auf Grundformen wir Kugel, Dreieck, Trapez reduziert wird.

Kubismus, Formen statt Farben, Malen lernen
Juan Gris, Gitarre und Klarinette, 1920,
Kunstmuseum Basel

Parallel verläuft die Entwicklung von Form und Farben bei den Kubisten. Hier werden die Farben möglichst verlassen, auf ein absolutes Minimum reduziert. Denn es soll um die Form gehen. Der dargestellte Gegenstand ist nur noch Ausgangspunkt, der in die Grundformen seiner Bestandteile aufgesplittert wird.

Am Bauhaus fand eine besonders intensives Auseinandersetzung mit der Gestaltung, der Wirkung der Farben und der Reduktion auf Grundformen statt. Viele bedeutende Künstler unterrichteten dort. Ein besonders prägender war Wassily Kandinsky (1866-1944), der Maler eines der ersten abstrakten Gemälde überhaupt. Von ihm stammt auch das Titelbild dieses Beitrags (Roter Fleck II, 1914, Lenbachhaus München). Er propagierte das Geistige in der Kunst, also eine Bildwirkung, vielleicht sogar eine Aussage, jenseits einer optischen Abbildung. Damit war der Weg frei für eine Kunst ohne Gegenstand. In der Folge wurden andere Bildelemente wichtiger, wie die Stimmung und der Rhythmus eines Bildes.

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Piet Mondrian, Komposition in Rot, Gelb,
Blau und Schwarz, 1921,
Kunstmuseum, Den Haag

Dass auch mit recht statischen Formen ein Eindruck von Bewegung gelingen kann, dafür sind die Bilder von Piet Mondrian (1972-1944) sozusagen lebender Beweis. Mondrian gelingt es, die statischste Form überhaupt, das fest auf seiner Grundlinie stehende Quadrat in Bewegung zu setzen. Das erreicht er durch mehrere optische Effekte. Zunächst kommen hier Farben zum Einsatz, die zueinander den größtmöglichen Kontrast in der Buntheit, im Farbton, bilden. Technisch werden Farben wie Blau oder Rot als bunt bezeichnet, weil sie eine eindeutige Wellenlänge haben. Den Gegensatz dazu bilden unbunte Farben wie Weiß und Schwarz oder Mischfarben wie Grau.
Den größten farblichen Abstand zueinander haben die beiden Gegenfarben der Komplementäre und die drei Primärfarben Gelb, Rot und Blau. Werden Komplementärfarben kombiniert, schwingt die farbliche Energie hin und her. Wird das Trio der Grundfarben eingesetzt, kann mit der Anziehungskraft jedes einzelnen bunten Farbfelds jongliert werden. Das gelingt umso besser, als diese Flächen nie gleich groß sind.
Um dem Ganzen wieder etwas Ruhe zu geben, schliesslich soll ja ein optisch angenehmer Rhythmus entstehen, setzt Mondrian beruhigende Flächen dazwischen. Diese sind unbunt, also weiß oder grau, ergänzt durch ein Raster, manchmal aus schwarzen Linien, das Struktur gibt.

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Farbliche Interaktionen

Ein weiterer Künstler, der für seine Quadrate bekannt ist, war Josef Albers (1888-1976). Wie Kandinsky war auch er Lehrer am Bauhaus. Nach seiner Emigration unterrichtete er in den USA weiter. Albers Anliegen war es, auf die, manchmal sehr feinen, Interaktionen zwischen Farben und Flächen hinzuweisen. Dazu hat er einen regelrechten Kurs unter dem Titel „Interaction of Color“ (Interaktion der Farben) veröffentlicht (Yale University Press).
Ein typisches Beispiel solcher Wechselwirkungen sind hellgraue Quadrate, umrahmt von intensiven Farben wie Rot oder Grün. Die bunten Farben sind stärker als das Grau. Da die Felder in direkter Nachbarschaft liegen, weil keine Rahmen oder Streifen für Abstand sorgen, überflutet die intensivere Farbe das Feld mit dem farblich schwächeren Grau. Das bemerken wir nur im direkten Vergleich. Tatsächlich haben die hellgrauen Quadrate die exakt gleiche Farbe. Optischen nehmen wir sie aber unterschiedlich wahr.
Im Beispielbild lässt sich noch eine weiteres optisches Phänomen beobachten: Mit Rot und Grün liegen zwei komplementäre Farben als direkte Nachbarn nebeneinander. Sehen wir sie gleichzeitig, dann bewirkt der Effekt des Simultankontrasts, dass sich die Unterschiede verstärken. Bei komplementären Gegenfarben ist der Unterschied in der Buntheit aber bereits auf seinem Höhepunkt. Die Flächen erscheinen dann – nur in unserem Sehen – nicht mehr ganz durchgängig in Rot oder Grün.

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Dan Flavin, Lichtinstallation 2007,
Pinakothek der Moderne, München

Starrt man lange genug auf eine einfarbige Form oder Fläche, dann kommt es hingegen zum Effekt des Sukzessivkontrastes. Vor unseren Augen entsteht ein Nachbild in der Gegenfarbe. Dieses Geisterbild erzeugt unser Körper sozusagen künstlich. Es dient der Entspannung unseres Sehapparates. Denn sehr intensive einfarbige Flächen überreizen unsere Farbrezeptoren, die winzig kleinen Zellen in unseren Augen, die auf Farbe reagieren. Den Blick starr auf einen Punkt zu richten, ist zusätzlich unnatürlich und sehr anstrengend.
Ein Künstler, der dies und die Tatsache, dass Farben eigentlich Licht sind, zum Bestandteil seines Werks gemacht hat, war Dan Flavin (1933-1996). Beim bzw. nach dem Besuch einer seiner monochromer Lichtinstallationen kann man den Effekt des Sukzessivkontrasts im Selbstversuch erleben.

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