Egal ob figurativ, realistisch oder abstrakt, gegenstandslos gemalt werden soll, ein Gemälde mit der optischen Illusion von Tiefe, einem gefühlten Bildraum, ist für den Betrachter zugänglicher. Der Blick geht dann regelrecht gerne ins Bild.
Natürlich wussten das viele Meister der Kunstgeschichte auch in früheren Jahrhunderten schon. Am Werk von Giotto di Bondone (1267-1337) lässt sich die Entwicklung gut nachvollziehen. Anfangs (oder je nach Auftrag) war noch der Goldgrund bestimmend. Dieser verhindert jegliches Gefühl für einen uns bekannten Raum. Das passt zu Bildern, die als Ikonen zur Andacht bestimmt sein sollten. Der Gläubige blickt dann auf eine Welt, die ihm, dem sterblichen Wesen, nicht so recht zugänglich ist. Im Vergleich dazu stehen spätere Werke, in denen es im Bild das Gefühl von Raum gibt, sei es nun durch eine Farbe, die ihm Hintergrund Tiefe erzeugt oder dass ein aus der Realität bekannter Raum in Form von Landschaft oder Architektur dargestellt wird. Der Effekt ist, dass die Augen des Betrachters regelrecht in die Bildtiefe eingeladen werden.
Eine weitere farbliche Besonderheit ist der Nah-Fern- oder Warm-Kalt-Kontrast. Er beschreibt, dass wir Farben, die in Richtung Rot tendieren, räumlich in den Vordergrund ordnen und solche, die in Richtung Blau gehen, gedanklich in den Hintergrund setzen. Der Grund dafür ist, dass Sehen ein sehr aufwändiger Prozess ist. Unser Gehirn möchte vereinfachen. Ohnehin ordnet es Eindrücke sehr gerne, weil das die Interpretation erleichtert. So übertragen wir sehr schnell und unbewusst häufig gemachte Erfahrungen beim Sehen auf neue Eindrücke und Bilder.
Blicken wir auf den Horizont, sehen wir, durch die Art des Lichteinfalls dort, Blau. Rot sehen wir am Himmel morgens oder abends, wenn die Sonne schräg steht und das Licht auf uns zukommt. Also ordnen wir Blau und kalte Farben optisch in den Hintergrund, es entsteht die Illusion von Ferne. Umgekehrt erscheinen uns warme Töne wie Rot oder Braun, aber auch solche, die im Vergleich zu den blauen Anteilen wärmer wirken, näher zu uns, vorne im Bild zu liegen. In der Malerei läßt sich das natürlich bewusst nutzen. Im Zeitalter der Renaissance hat man dafür oftmals gebirgige Landschaften in Blautönen in den Hintergrund gesetzt, siehe Abbildung links. Im Titelbild zum Beitrag von Ferdinand Hodler (1853-1918), Landschaft am Genfer See von 1906 ist die Tiefenwirkung durch den Temperaturkontrast zwischen warmen und kalten Farben besonders gut nachzuvollziehen.
Die optische Wirkung von räumlicher Tiefe im Bild lässt sich durch weitere Mittel noch zusätzlich unterstützen: Licht im Hintergrund zieht den Blick an, Linien die in die Tiefe des Raums führen. Das funktioniert bei einer Landschaft ähnlich wie bei einem architektonisch konstruiertem Raum. Im Mailänder Fresko hat Leonardo da Vinci (1452-1519) sind diese optischen Tricks zu einer regelrechten Sogwirkung kombiniert. Reproduktionen in denen es um die Beziehungen zwischen den dargestellten Personen geht, blenden daher häufig den Hintergrund aus.
Da der Nah-Fern- oder Warm-Kalt-Kontrast allein auf den Unterschieden in den Farbtemperaturen basiert, funktioniert er auch bei abstrakten und gegenstandslosen Werken. Farbe kann eben mehr als eine Zeichnung nur zu kolorieren.